Eine Münchner Familie in Papua-Neuguinea
Spurensuche. Betty Kurz, promovierte Psychologin aus München, ist aufgeregt. Seit einigen Monaten leben sie, ihr Mann Sebastian und ihre drei kleinen Kinder in Wewak, an der Nordküste Papua-Neuguineas: gut 20.000 Einwohner, traumhafte Strände, ein kleiner Flughafen und ein Krankenhaus, das eigentlich keines mehr ist. Der einzige Arzt wurde vor ein paar Wochen auf offener Straße ermordet, weil er sein Notfallhandy nicht hergeben wollte.
„Auf dem Sterbebett zählt nicht, ob ich einen Jumbo geflogen bin, sondern wie ich mein Leben eingesetzt habe.“
Sebastian Kurz, Pilot

Jetzt gibt es nur noch wenige Patientinnen auf der Geburtsstation, die aussieht wie Spitäler in alten Kriegsfilmen: heruntergekommene Holzbaracken, an vielen Stellen morsch, manches lediglich notdürftig geflickt, von Hygiene keine Spur. Gemeinsam mit Pat, einer resoluten Hebamme, und deren Kolleginnen sucht sie in einem großen, abgegriffenen Register nach der entscheidenden Notiz: Ja, hier wurde Betty geboren, es war der 8. April 1985. Ihre Eltern, „technische“ Missionare aus Deutschland, haben damals in Papua-Neuguinea Gebäude instand gehalten und Kirchen gebaut, die heute noch existieren: kleine Wellblechkonstruktionen mitten im Busch und – immerhin – mit Kirchturm. Im Alter von sieben Jahren ging es dann für Betty zurück nach Deutschland.


Keine Straßen, keine Infrastruktur:  Ein kleines Dorf im Norden Papua-Neuguineas
Keine Straßen, keine Infrastruktur: Ein kleines Dorf im Norden Papua-Neuguineas

23 Jahre später ist sie wieder da. Als Mutter und Missionarin, wenn auch die drei quirligen Kinder zurzeit mehr als gewollt an ihren Nerven zerren. Ehemann Sebastian ist Pilot bei der christlichen Hilfsorganisation „Mission Aviation Fellowship“ (MAF) und fliegt fünf Mal die Woche Passagiere, technische Geräte, Nahrungsmittel, Medikamente und manchmal auch eine Leiche durch den Busch. Vor allem buckelige Graspisten sind seine Ziele, mal mitten in den Bergen, mal direkt an den Ufern des Sepik, eines der größten Flusssysteme der Welt, das durch Papua-Neuguinea und teilweise auch durch Indonesien mäandert.


Mehr Abenteuer, weniger Gehalt

Noch vor wenigen Jahren ist Sebastian Kurz als Co-Pilot bei Augsburg Airways im Auftrag der Lufthansa unterwegs gewesen: Modernste Turbo-Prop-Maschinen machten das Fliegen in Europa angenehm, die Arbeitsbedingungen und auch die Bezahlung waren mehr als gut – wie in Deutschland eben üblich. Jetzt fliegen er und seine beiden Piloten-Kollegen aus England und Südafrika in einmotorigen Propellermaschinen von Dorf zu Dorf, um zu helfen. Weniger Komfort, dafür mehr Abenteuer. Und das Gehalt hat sich halbiert.

Trotzdem: Sicherheit steht im Busch am anderen Ende der Welt ganz oben, die alten Maschinen sind super in Schuss. Und auch die Piloten müssen Tag für Tag zeigen, dass sie es draufhaben: Starten und Landen in kleinen Hochgebirgsschluchten, auf gefährlichen Graspisten, häufig überflutet und mit allerlei Hindernissen – und das alles ohne Tower, ohne Flugsicherung, ohne technischen Support. „Für jede Piste gibt es eine genaue Einweisung und mehrere Kontrollflüge, bevor ich dort überhaupt landen darf“, sagt Sebastian Kurz, bevor er irgendwo in der Wildnis zur Landung ansetzt, „das dauert gut zwei Jahre.“ Aus gutem Grund, erklärt Brad (40), dienstältester Pilot in Wewak und Flugzeugnarr: „Wir fliegen Bahnen in vier Gefahrenklassen an, von A bis D. D heißt für uns häufig: Hier ist es so steil oder so eng, dass wir keine zweite Chance haben. Die Landung muss beim ersten Anflug klappen.“

Von insgesamt 400 Pisten, die ein Landen in der Wildnis möglich machen, werden von MAF etwa 300 bedient, die staatliche Airline Air Niugini schafft gerade einmal knapp 30. So sind die kleinen Flugzeuge häufig die einzige Möglichkeit, aus den Dörfern im Busch woanders hinzukommen, auch wenn die Anreise zur Flugpiste lange Fußmärsche bedeutet. Straßen gibt es nur wenige, kaum eine ist asphaltiert, die meisten Siedlungen sind nur zu Fuß oder per Kanu zu erreichen – manchmal eine Angelegenheit von mehreren Tagen für wenige Kilometer Luftlinie. Wenn sich jemand verletzt, ein Kind bekommt oder Termine bei Behörden hat, dann ist MAF die Lösung.

Auch für die noch wenigen verbliebenen Missionare aus aller Welt, die ihr komfortables Leben gegen einen mehrjährigen Aufenthalt im Busch getauscht haben. So lange brauchen sie, bis sie eine der fast 800 Sprachen vor Ort gelernt, ein Alphabet entwickelt und einige Kapitel der Bibel übersetzt haben. Für den Amerikaner Jason Stuart beispielsweise, der bereits 15 Jahre in einer kleinen Hütte mitten im Busch verbrachte, sind die Piloten von MAF für viele Monate der einzige Kontakt zur Außenwelt. Und die einzigen Lieferanten: eine Zeitschrift oder Post von zuhause, Ersatzteile für ein in die Brüche gegangenes Werkzeug oder Medikamente.

Ein Toter als Passagier

Wewak Airport, morgens um sieben. Drei MAF-Piloten und ein lokaler Mitarbeiter – Routenplaner, Frachtoperator und Bodenpersonal in Personalunion – sitzen um einen abgewetzten Tisch im kleinen Hangar. Draußen warten zwei Flugzeuge auf ihren beschwerlichen Weg, drinnen bitten die Männer

 

Fliegt aus Leidenschaft: Sebastian Kurz  unmittelbar vor dem Start
Fliegt aus Leidenschaft: Sebastian Kurz unmittelbar vor dem Start
Familienleben in einer anderen Welt: Psychologin Betty Kurz mit ihrem jüngsten Sohn Joel
Familienleben in einer anderen Welt: Psychologin Betty Kurz mit ihrem jüngsten Sohn Joel

Video: Sebastian Kurz im Interview
Video: Betty Kurz im Interview

Weiterreise: Von der Flugpiste bis ins Heimatdorf sind es nochmals viele Stunden im Einbaum.
Weiterreise: Von der Flugpiste bis ins Heimatdorf sind es nochmals viele Stunden im Einbaum.

Video: Unterwegs in Papua-Neuguinea
Trauer: Ein Mann ist gestorben und wird ins Heimatdorf gebracht.
Trauer: Ein Mann ist gestorben und wird ins Heimatdorf gebracht.

gemeinsam um Gottes Segen. Dann geht’s los. Wewak, Tekin, Yatoam, Sisamin, Telefomin, Duranmin, Okisai, wieder Telefomin und schließlich zurück nach Wewak, das Tagesprogramm. Manche Strecken dauern länger als eine Stunde, manche nur wenige Minuten – trotzdem eine Riesenerleichterung für die Menschen draußen im Busch. Transportiert werden einige Kisten, eine kranke Frau, zwischendurch ein Notfall, immer wieder normale Passagiere. Gestern hingegen gab es eine ungewöhnliche Fracht: Ein wichtiges Stammesmitglied war während einer Reise gestorben und sollte in der Heimat beerdigt werden. Mit lautem Lamento der Begleiter wurde sein Sarg in das Flugzeug verladen, laut und ergreifend war auch die Ankunft im eigenen Dorf, zu der fast alle Einwohner erschienen waren.

Das genau ist das Spannungsfeld, in dem die Piloten in Papua-Neuguinea leben: Weil die Flugkosten so teuer sind, erklärt Sebastian Kurz, würden viele Kranke auf einen Transport in ein Hospital verzichten – aus Angst, dass sie dort sterben und unerschwingliche Überführungskosten für die Angehörigen entstehen könnten. Dabei werden Hilfsflüge, sogenannte „Medical Evacuation Flights“, von MAF subventioniert, teilweise sogar komplett übernommen. Ansonsten kostet jeder Passagier, jede Kiste Fracht Geld – wie bei anderen Fluglinien auch. Mehr, wenn es sich um kommerzielle Flüge handelt, entsprechend weniger, wenn es um kirchliche oder humanitäre Zwecke geht, sofern es das Spendenaufkommen erlaubt.

Für die Missionare vor Ort bedeutet das: kürzere Zeiten bei den Menschen vor Ort, mehr Flüge pro Tag. Und so sieht sich Sebastian Kurz auch eher als Missionar in zweiter Reihe: „Es gibt schon Freundschaften, die im Busch entstehen“, sagt er, doch häufig gehe es über ein freundliches Händeschütteln und Schulterklopfen nicht hinaus. Trotzdem ist das Fliegen hier für Sebastian Kurz ein Traumberuf: Bereits als Zivildienstleistender im afrikanischen Namibia waren ihm die Buschpiloten der MAF aufgefallen – sein Berufsziel war von da an klar. Dass seine Flugerfahrung bei Lufthansa hier wenig zählt, dass MAF einen zusätzlichen Marathon aus Flug- und Persönlichkeitstests verlangt, insgesamt


sechs Umzüge in den letzten zwei Jahren, das mitunter strenge Regime der missionarischen Fluggesellschaft (Alkohol beispielsweise ist auch privat nicht erlaubt), nimmt der studierte Theologe und überzeugte Christ in Kauf: „Auf dem Sterbebett zählt nicht, ob ich einen Jumbo geflogen bin, sondern wie ich mein Leben eingesetzt habe. Hier kann ich meine Leidenschaft mit sinnvoller Arbeit verbinden. Das hier ist mein Platz“ – ein exotischer, fürwahr.

„Was mache ich eigentlich hier?“

Corned Beef, ein wenig Müsli, eine fertige Spaghetti-Sauce und stapelweise Thunfischdosen, eingestaubt irgendwo im Regal des örtlichen Kaufladens: Mehr können die Missionare hier nicht erwarten, dafür aber jede Menge exotisches Gemüse und frische Fische auf den vielen Straßenmärkten rundum. Der nächste Arzt allerdings ist jetzt anderthalb Flugstunden entfernt und nur tagsüber erreichbar, kein gutes Gefühl bei drei kleinen Kindern, die schnell mal Fieber bekommen und sich mit exotischen Krankheiten infizieren könnten. Und ab 17 Uhr sollte man nicht mehr draußen herumlaufen – Papua-Neuguinea gehört zu den am stärksten von Malaria betroffenen Gebieten der Welt. Auch die Verbrechensraten sind abenteuerlich hoch: Keiner der Piloten oder ihrer

Terminal: Traditionelle Hütte, direkt an der Landebahn
Terminal: Traditionelle Hütte, direkt an der Landebahn

Frisch: Fische gehören zu den Hauptnahrungsmitteln in Wewak.
Frisch: Fische gehören zu den Hauptnahrungsmitteln in Wewak.

Familienangehörigen verlässt die mit Nato-Draht und hohen Metallzäunen gesicherte Wohnsiedlung, wenn er nicht muss. Dort ist die Internetverbindung extrem langsam und unzuverlässig, der Kontakt in die Heimat deshalb eingeschränkt. Restaurants gibt es kaum. Und noch weniger Cafés.

„Das fällt mir besonders schwer“, gibt Betty Kurz, als ihre Kinder bereits schlafen, zu. „Manchmal frage ich mich schon: Was mache ich eigentlich hier? Ich vermisse meine Eltern und Geschwister, meine Freunde, meine Kolleginnen und Kollegen an der psychologischen Fakultät der Uni, das spontane Treffen auf einen Cappuccino in München.“ Mitte 2016 läuft der Vertrag für die Familie aus, ob sie noch einmal verlängern, weiß sie noch nicht. „Ich wünschte, ich könnte mehr helfen“, sagt sie, doch es gibt keinen Kindergarten für ihre Jungs. Trotzdem findet sie, dass sie hier mit wenigen Mitteln viel bewirken kann: „Die ersten 28 Jahre meines Lebens ging es ja nur um mich, meine Ausbildung, meine Karriere. Jetzt schraube ich eben meine eigenen Erwartungen und Wünsche zurück, um denen zu helfen, die wirklich Hilfe benötigen.“

Auch Sebastian gesteht: „Manchmal hätte ich am liebsten das Handtuch geworfen.“ Trotzdem findet er es sinnvoll und auch für sich persönlich interessant, in Papua-Neuguinea zu leben: „Der Tagesablauf hier ist ein anderer, das Leben ist entschleunigt, findet langsamer statt. Die wenigsten gehen zur Arbeit, sie bauen einfach an, was sie zum Leben brauchen.“ Und so wird es für ihn und Betty wohl immer schwerer, in Deutschland wieder Fuß zu fassen: „Fliegerisch ist es hier viel herausfordernder als in Europa. Trotzdem wird es sicher nicht einfach, wieder einen Job bei einer Airline zu finden. Die Verantwortlichen in Deutschland können sich einfach nicht vorstellen, was wir hier alles tun.“